kiruna 2013.

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Tag 1. Dresden - Kopenhagen - Malmö - Stockholm.

Montag/Dienstag, 21./22.01.2013



Es gibt sie nicht, die Wagen nach Kopenhagen. Der Zug fährt in Dresden ein ohne die beiden Schlafwagen nach Dänemark. Das scheint aber auch noch niemanden aufgefallen zu sein, das tschechische Personal schickt uns erstmal in die vorderen Waggons, in Berlin sollen die Wagen wohl stehen . Wahrscheinlich. Nun gut. Ich sitze also in einem zugigen tschechischen Abteil aus dem Jahre 1, so zumindest fühlt es sich an. Das Fenster ist von innen vereist, während der Fahrt bildet sich eine Schneeschicht in der Ecke des Fensterrahmens. Es regnet im Abteil, zwei von sechs Sitzen sind unbenutzbar weil nass. Ein DB-Schaffner kommt und gibt die Information, dass er nicht weiß, ob die beiden Kopenhagener Wagen in Berlin stehen. Heute morgen hätten sie 360 Minuten Verspätung gehabt und wären in Hannover stehen geblieben. Dort sollen wir nun erstmal hin und dort müssten die Wagen dann stehen. Für die Zuggäste nach Amsterdam ist übrigens in Hannover Schluss, in Holland liegt Schnee, da fahren die Züge nicht rüber.

In Berlin am Ostbahnhof steigt ein sehr sächsischer Zugführer ein und brabbelt irgendwas von "Fahrnse erstma mit bis Hannover, da sinnse schon ma een Stückchn weiter." Naja. Eine Stunde passiert nichts. Dann tauchen am Nachbargleis die vermissten Wagen auf und werden kurz darauf an unseren Zug gekoppelt. Also steigen wir um. Endlich ein Liegewagen, es ist gleich eins. Im Abteil ist nur ein weiterer, ein Physikstudent, ein Halbdäne, dem das Studieren in Westdeutschland zu teuer geworden ist und deswegen in Dänemark studiert. Er hatte ein Jobgespräch in Prag, er hat auch einige Samples dabei, doch keine Angst, sie sind nicht radioaktiv; die Hände waschen sollte man sich jedoch gründlich. Wir reden über dänische Züge und über die Verwirrung hierzulande wegen des ständigen Gekoppels zwischen fünf verschiedenen Zugtypen mit fünf verschiedenen Betreibern. Wir reden darüber, wie langweilig Berlin doch ist, und das der Fimenname "Bam!" für einen Kran recht unpassend ist, aber immerhin lustig. 

Er steigt am nächsten Morgen in Kolding aus, er meint, wir hätten zur Zeit eine halbe Stunde Verspätung, mehr solle es wohl auch nicht werden. Wird es aber. Ich komme mit 105 Minuten Verspätung in Kopenhagen an, der Zug nach Stockholm ist weg. Die Dame im DSB-Servicebüro stellt mir jedoch ohne große Probleme (und auf Deutsch - man stelle sich die Situation nur mal in einem DB-Servicecenter vor: ein Däne kommt und erklärt seine Lage auf englisch, die Bahn würde die Hände heben und sich jeder Schuld und jedes sprachlichen Verständnisses unfähig erweisen) eine Ersatzkarte aus, ich könnte meinen Zug nach Kiruna heute abend also noch bekommen. Aber für den Fall, dass ich zu spät in Stockholm ankomme, bucht sie mir zur Sicherheit noch den Folgezug gratis dazu, so dass ich auf jeden Fall morgen Nachmittag in Kiruna bin. Das nennt sich Service, ich gehe beruhigt über den Bahnhof und steige in den Zug nach Malmö. Dort angekommen steht auch schon der X2000 nach Stockholm bereit. Die Reise geht also weiter.

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Tag 2. Stockholm - Kiruna.

Dienstag/Mittwoch, 22./23.01.2013


Was zu beweisen wäre: es gibt nicht viele Eisenbahnunternehmen, die Probleme mit dem Schnee (wie ungewöhnlich im Winter!) haben. Ich bekomme problemlos meinen Nachtzug in Stockholm. Zunächst funktioniert zwar der Strom nicht und wir sitzen in einem komplett finsteren Abteil, aber auch nur die ersten zwanzig Minuten. An Bord scheinen kaum Schweden zu sein, eine bunte und interessante Mischung aus Japanern, Georgiern, Afrikanern, Deutschen und Österreichern wuselt umher.

Die Fahrt verläuft problemlos und wir kommen fünf Minuten zu früh in Kiruna an. Draußen ist es wolkenlos, kalt ist es nur, wenn der Wind weht. Minus 9°, kein Grad kälter als in Dresden. Sitze noch am Bahnhof, der Check-In ins Hostel ist erst 14 Uhr. Verlaufe mich ein wenig, glaub ich. Jedenfalls brauch ich länger als die auf der Facebookseite des Hostels angegeben zwanzig Minuten. Das Hostel ist eine einfaches Wohnhaus inmitten vieler, es fällt nicht auf, hat kein Schild, einfach nur ein rotes Haus mit schneebedecktem Dach. Das macht es einfacher, sich heimelig zu fühlen, wenn man nicht wüsste in einem Hostel zu sein, könnte man auch leicht denken, hier wirklich zu wohnen. Die Hostelinhaberin heißt Kerstin und wohnt in der zweiten Etage. Eine wirklich liebe Person, sie zeigt mir gleich, wie ich vom Bahnhof gelaufen sein muss, dass es so lang gedauert hat. Und meint, sie kennt einen Weg, den sie mit großem Rucksack in sechs Minuten schafft.

Gehe ein wenig durch die Stadt. Es ist kurz vor um drei, die Sonne ist fast verschwunden. Das Gehen erweist sich im Übrigen schwieriger als man vielleicht glauben mag, der Wind hat stark zugenommen. Eine Mischung aus Schnee und Streugut fliegt um die Ohren, die Kapuze hält nicht wirklich auf dem Kopf. Wenn der Wind kurz aufhört, ist es wunderschön angenehm kühl. Kaufe ein. Dreihundertzwanzig Kronen für drei Tage Verpflegung. Ich habe das Gefühl, in Schweden steigen die Lebensmittelpreise noch schneller als in Deutschland.

Abends klart es auf. Zumindest scheint es so, dem Blick aus dem Fenster zu urteilen. Ich gehe nochmal raus, auf den Midnattsolstigen hinter dem nahegelegenen Campingplatz. Dort ist es dunkel und man soll Polarlichter sehen können, meint die Hostelinhaberin. Ich sehe jedoch keine, denn mit jedem Schritt, den ich gehe, scheint es, ziehen neue Wolken auf. Auch der Mond ist zu hell. Vielleicht habe ich morgen mehr Glück, dann ist immerhin schon Stärke 3 vorhergesagt.

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Tag 3. Kiruna / Jokkmokk.

Donnerstag, 24.01.2013


Es ist gar nicht mal so unangenehm, in einem Bett zu schlafen, was sich nicht permanent bewegt. Als um acht der Wecker klingelt, mag ich gar nicht so recht aufstehen. Ja, um acht. Ja, im Urlaub. Es ist so: ich habe für heute geplant, nach Jokkmokk zu fahren, um Georgi zu besuchen, den ich letztes Jahr dort kennengelernt habe. Und von Kiruna nach Jokkmokk ist es eine knapp dreieinhalbstündige Fahrt mit Zug und Bus. Um nicht nur fünf Minuten da zu sein, nehme ich den Zug um Neun Uhr Vierzig. Der ist dann auch pünktlich, ich hätte auch nichts anderes erwartet. Auch wenn anscheinend viele Menschen auf die SJ schimpfen, ich hatte noch nie Probleme damit. Aber wer bin ich auch, der sich nach einer Handvoll Besuche und vielleicht doppelt so vielen Zugfahrten in Schweden ein Urteil erlauben kann. Jedenfalls: keine Probleme, der Winter ist hier ein willkommener Gast, wie mir scheint und kommt keineswegs überraschend. 

In Jokkmokk angekommen fahren wir zu Georgis Wohnung, auf die er drei Monate warten musste. Die Bürokratie in Schweden ist auf einem höheren Level als anderswo, meint er. Wie schnell du eine Personennummer bekommst, ist oft von der Laune der Amtsmitarbeiter abhängig. Seine Frau und er wohnen nun seit einem Jahr in Jokkmokk, kommen ursprünglich aus Bulgarien. Sie bezeichnen sich übrigens als alt, und sind gerade mal ein und vier Jahre älter als ich. Ich bin also nicht allein mit dem permanenten Altgefühle. Wir essen Hamburger und reden über Schweden und wie langweilig es doch in Jokkmokk auf Dauer ist, über die Freundlichkeit der Arbeitsamtangestellten hierzulande, die es den Zugezogenen alles andere als schwer machen, Fuß zu fassen. Aber, und ein aber gibt es immer, alles steht und fällt mit der Personennummer. Ohne die bist du in Schweden nichts wert. Georgi arbeitet als Koch, über die Wintersaison. Seine Frau lernt schwedisch an der Sprachschule, Lehrerin möchte sie hier werden, wenn ich das richtig verstanden habe. Wir unterhalten uns in einem Mix aus Englisch und Schwedisch, Swenglish genannt und das funktioniert ganz prima.

Dann fahren wir zu der Sprachschule, die eigentlich ein Lehrerausbildungszentrum ist, und wollen Georgis Frau abholen. Er erzählt mir, dass es eine deutsche Schwedischlehrerin dort gibt, die seit vielen Jahren in Nordschweden wohnt. Wir treffen sie und sitzen lange und unterhalten uns - größtenteils auf schwedisch. Auch eine schwedische Lehrerin sitzt am Tisch, und so hat das Ganze was von einem Ersatz für den morgigen Schwedischkurs in Dresden, den ich ja - herrje, leider leider! - verpasse. Und wie es der Zufall will, kommt die deutsche Schwedischlehrerin mit dem wahnsinnig deutschen Namen Irmtraud aus der Nähe von Sachsen. Die Welt ist klein, so klein. So reden wir über dies und das, über Castingshows, über das Leben im Wald und wie es wäre, wenn Geld nicht das wichtigste auf der Welt wäre. So viel Schwedisch hab ich in einem Schwedenurlaub noch nie gesprochen und doch, das tut gut. Sie geben mir den Tipp, als wir darauf zu sprechen kommen, dass es ja quasi ein Traum von mir ist, irgendwann in Schweden Fuß zu fassen, als Sprachlehrer für deutsch anzufangen, die werden gesucht, so erzählt man mir. Naja, wieder ein Punkt mehr auf meiner Liste der Träume. 

Schade, dass ich den letzten Bus nach Kiruna nehmen muss. Ich habe nicht gewusst, dass es okay wäre, wenn ich bei Georgi übernachte, aber ich hätte die ganze Woche da bleiben können. Aber im Sommer will ich wieder kommen, sage ich, ich habe den Norden Schwedens noch nie im Sommer gesehen, dann, wenn es immer hell ist und die Leute nachts um eins ihren Rasen mähen, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen vor Schlaflosigkeit. 

Zurück in Kiruna, zurück im Hostel. Dort sind neue Gesichter aufgetaucht. Einer kommt aus Deutschland und wohnt seit eineinhalb Jahren in Malmö; überall sind sie, die Aus- und in Schweden eingewanderten Menschen, so schwer kann es also gar nicht sein. Und auch sie, die neuen Gäste wollen heute, bei Vorhersagestufe drei die Polarlichter endlich einmal sehen. Ich lasse mir noch Zeit, werde erst gegen zehn nochmal rausgehen und in den Himmel starren, der zur Zeit noch ganz schön bewölkt ist, obwohl der schwedische Wetterdienst etwas völlig anderes behauptet. Mal schauen, ob es heute noch Nordlichter zu erleben gibt. Ich bin gespannt.

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Tag 4. Kiruna.

Freitag, 25.01.2013


Mir scheint, ich fahre jedes Jahr zur falschen Zeit ans nördliche Ende der Welt. Auch gestern Nacht gab es außer Mond und Wolken und Grau und Schwarz und den Rauch der Mine in der Ferne nichts zu sehen. Dennoch: nichts schlägt die Ruhe, das Klirren der Kälte, den Schimmer des Mondes auf dem meterhohen Schnee. Wenn die Lichter auf dem Midnattsolstigen aus sind, wirkt alles noch wunderbarer. 

Ich gehe spät schlafen, um noch später wieder aufzustehen. Alle anderen Hostelbewohner sind schon aus dem Haus, als ich frühstücke. Erst gegen zwölf verlasse ich das Haus und gehe durch die Stadt. Schaue mir die Ausstellungen im Stadshuset an, besuche das Hjalmar-Lundbohm-Museum, in dem unzählige Fotos aus den Anfangsjahren Kirunas hängen. Lundbohm war quasi Gründer der Stadt Kiruna, er als der damalige erste Chef der Mine baute die ersten Häuser hier. Nach ihm sind hier eine Menge Dinge benannt, wie sollte es auch anders sein. Im Park, in dem auch das Lundbohmhaus steht, werden gerade oder besser, weil schon seit ich angekommen bin, werden immer noch die Schneeskultpuren gebaut. Werde morgen noch mal schauen gehen, ob es ein Endergebnis gibt. Trinke im Café Safari- der hiesige Place to be für alle Schwedenhipsterinnen und -hipster, wie mir scheint - einen Kaffee und lese und schaue den Bedienern zu, wie sie verzweifelt Nummern in den Raum rufen und niemand reagiert und sie daraufhin missmutig in den ersten Stock schlurfen und das Rufen von vorn beginnt. Nahezu jede Bestellung sitzt oben, könnte ich die schwedischen Zahlwörter nicht, würde ich sie hier wohl am besten lernen. 

Gegen halb fünf zurück im Hostel, mein Zimmer ist mittlerweile voll belegt, eine Person aus Deutschland ist dabei, sie hat auf ihrer zweiwöchigen Reise schon Nordlichter gesehen, ich beneide sie und aktualisiere im gefühlten Sekundentakt die Aurora-Forecast-Homepage. Stufe zwei live gegen halb acht, ich verlasse das Haus und gehe erneut zu Camp Ripan, auf den Midnattsolstigen, doch - Wolken, Mond, Grau und Schnee. Gehe eine Stunde ungefähr, vielleicht auch länger, durch den Park und starre in den Himmel, nichts tut sich. Doch wieder überwältigt mich diese Ruhe, nur gestört durch ein fernes Hundegebell und einen Skifahrer, der den einen Berg hinunterschießt. Vielleicht gehe ich später nachts nochmal raus, vielleicht klart es noch ein wenig auf, vielleicht sehe ich noch etwas, vielleicht.

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Tag 5. Kiruna (- Stockholm).

Samstag/Sonntag, 26./27.01.2013


Die letzte Nacht im Hostel im voll besetzten Viererzimmer und ich schlafe von dennoch von Nacht zu Nacht immer besser. War spät am Abend zuvor noch mal draußen, nach dem die Aurora-Forecast-Live-Vorhersage auf Stufe 3 gesprungen ist, aber trotzdem hatte ich keinen Erfolg. Dem Mond fehlt noch eine Ecke zum Vollmond, er leuchtet das ganze Areal gespenstisch hell aus. Die Wolken, die erst abseits der Straßenbeleuchtung als Wolken erkennbar sind, tun ihr übriges. So wie es aussieht, muss ich nächsten Winter noch nördlicher fahren, vielleicht nach Tromsö, ans norwegische Nordzipfel am Meer, vielleicht dort, vielleicht gibt es dort klare Nächte, wenn ich da bin. Und ich sollte wohl nicht zu Vollmondphasen fahren, vielleicht.

Am Morgen, der eigentlich schon fast ein Mittag ist, frage ich die Hostelbesitzerin, ob ich etwas länger als elf
Uhr bleiben darf, da mein Zug erst um drei fährt. Sie hat nichts dagegen, so pack ich meine Sachen, und gehe noch bisschen Kram für die Fahrt einkaufen. Es schneit leicht, und an einem Samstag ist die Stadt gleich doppelt so bevölkert, scheint mir. Alle Altersgruppen tummeln sich auf den Straßen, man könnte fast von einer belebten Szenerie sprechen. Mir fällt auf, das die Arbeitsgeräusche der Mine dennoch über allem schwirren, ein Brummen liegt in der Luft, das mir komischerweise jetzt zum ersten Mal richtig bewusst wird. Die letzten Tage habe ich es hin und wieder gehört und nicht drauf geachtet, dass es permanent da ist. Die Eisenerzmine, ohne die es Kiruna nie gegeben hätte und die gleichzeitig der Grund für eine Zwangsverschiebung der Stadt in den nächsten Jahren ist, ist allgegenwärtig.

Gegen ein Uhr verlasse ich das Hostel und gehe nochmal ins Zentrum, dort ist ja heute Hauptveranstaltungstag des Snöfestivals. Doch dort angekommen hat es etwas wie die schwedische Version des Heidenauer (oder jede x-beliebige Kleinstadt) Stadtfest im Winter - Menschen an Wurstständen, Menschen, die Wurst auf offenem Feuer grillen, Kinder, die schreien und/oder rodeln. Ein wenig enttäuscht ziehe ich weiter und lasse die Schneescooterausstellung, die aus vier ausgestellten Scootern besteht, hinter mir. Zusätzlich nervt mich übrigens meine Tasche, deren Rollen im Schnee-Eis-Streugut-Grund Kirunas nicht wirklichen Halt finden und das Gerät permanent zum Umfallen bringen. Schaue mir noch die - nun fertigen - Schneeskulpturen (wow!) an und gehe zum Bahnhof, um endlich das nervige kippende Gepäckstück abzustellen. Der Zug kommt ja doch schon in zwanzig Minuten an. -

Der Zug kommt ja doch schon in zwanzig Minuten an, dachte ich und erlebe dann live, weswegen viele Menschen auf die  SJ schimpfen. Zuerst eine Verspätung von dreißig, dann fünfundfünfzig, dann fünfundneunzig Minuten wird angezeigt, alles ohne Angabe von Gründen. Der Zug verlässt mit knapp anderthalb Stunden Verspätung Kiruna. Keiner weiß, warum. Ein anderer Regionalzug wird flugs an uns angekoppelt, fährt eh die selbe Strecke und eh der wartet, bis wir weg sind, kann er auch gleich mit uns mitfahren. So passen wir unsere Fahrt an seinen Fahrplan an und los gehts. Im Abteil sind zwei Franzosen und zwei Chinesen, die übrigens auch auf der Hinfahrt schon im Abteil mit mir waren. Willkommen zurück, die Welt ist klein. Die Franzosen haben Musik über ihre Handy laufen. Und zum ersten Mal passt sowas auch ganz gut. Eine Mischung aus The xx, Alt-J und Beirut als perfekten Coming-Home-Soundtrack zu untergehender Sonne am Horizont. Und immer weiß noch niemand, warum der Zug anderthalb Stunden zu spät war.

In Boden hat der Zug nur noch eine Stunde Verspätung, der Schaffner meint, bis morgen früh in Stockholm müssten wir auch die wieder drin haben, wenn es keine weiteren Zwischenfälle gibt. Kurz darauf hält der Zug in der Dunkelheit und fährt erst Minuten später weiter, als ein Güterzug ihn überholt hat. Muss kurz lachen und versuche mich zu erinnern, wo auf dem Stockholmer Hauptbahnhof das SJ-Servicebüro ist, um mein Ticket nach Kopenhagen umbuchen zu lassen. 

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Tag 6. Stockholm - Kopenhagen (- Dresden).

Sonntag/Montag, 27./28.01.2013


Die SJ kann zaubern, nehme ich an. Aus neunzig Minuten Verspätung bei der Abfahrt wird eine vierzigminütige Verfrühung in der Ankunft. Ich werde gerade wach, als am Fenster Arlanda, die letzte Station vor Stockholm vorbeizieht. Da kommt auch schon die Ansage, noch zwanzig Minuten bis zum Ziel. Viel zu früh und hungrig, weil frühstücken ja nun nicht mehr möglich war, steige ich aus dem Zug. Die Anzeige zeigt ironischerweise auch noch "tidig ankomst" an, so als wäre es das Normalste der Welt. Setze mich in ein Café und frühstücke in aller Ruhe.

Auch der Zug nach Kopenhagen ist pünktlich und fährt ohne Verzögerungen durch, diesesmal haben wir nur zwei Minuten Verfrühung, kommen aber unterwegs gern mal zehn Minuten früher als geplant an Zwischenstationen an. Mir scheint, die SJ weiß, dass sie öfters mal Probleme bekommen kann und hat deswegen ausreichend große Puffer eingebaut. Funktioniert recht gut, wie ich finde. In Kopenhagen habe ich nun also meine geplanten drei Stunden Aufenthalt. Sperre das Gepäck ein für unglaubliche sechzig Kronen (wer mag, kann ja mal umrechnen) und gehe ein wenig durch die Stadt. Das Wetter ist absolut deutsch. Grau, matschig, langweilig, trist und es regnet eine Art Schneematschmischmasch vom Himmel. Die Geschäfte schließen gerade alle, da fällt mir ein, dass ja heute Sonntag ist. Eine belebte Innenstadt mit geöffneten Läden setzt man ja schon ein wenig mit dem alten (deutschen) Werktagsschema gleich. Aber nein, zum Glück gibt es Sonntagsöffnugszeiten in allen Geschäften, so verkommt der Sonntag nicht zu einem leeren, traurigen Tag wie mancherorts in deutschen Innenstädten.

Trinke in einem Künstlercafé einen Kaffee. Die Musik passt eigenartig gut auf meine Abschiedsstimmung. Coldplay und Damien Rice - in den letzten beiden Tagen scheint die Musik zufällig genau richtig zu kommen und genau auf meine leicht melancholische Nach-Hause-Fahr-Stimmung zu passen. Bleibe lange dort sitzen und gehe erst gegen sechs Uhr zurück zum Bahnhof. Das Wetter ist unverändert ekelhaft, die Menschen huschen wie schwarze Schatten über die Straßen, die Kapuzen bis zur Nase gezogen, nur nichts mitbekommen von dem Matsch da draußen. Als ich zurück gehe und gedankenverloren durch die nun fast leere Einkaufsmeile schlendere, spielt ein Mann mit seiner Gitarre "Easy like sunday morning", aber es scheint mir, er spielt es in einer Abendversion, einer angebluesten Version mit einer Schwermut in der Stimme, die mich meinen Schritt verlangsamen lässt. Es hallt in den leeren Gassen, nur ein paar frierende Schildträger stehen noch rum, um Leute auf die Restaurants in den Seitenstraßen aufmerksam zu machen. Ein Stück weiter, der Klang der Gitarre ist noch nicht verhallt, steht ein Saxophonist am Straßenrand. Und spätestens jetzt fühle ich mich wie in einem Film. Es schnee-regnet, die Straße ist rutschig-matschig und beinahe menschenleer, nur ein Saxophon tönt leise traurig durch die Dunkelheit. Ich schlurfe, begleitet vom Blues die Straße entlang, immer langsamer, meine Füße sind nass, doch das stört mich gerade nicht. Alles ist gut, jetzt in diesem Moment. -

Ich komme erst nach eine halben Stunde am Bahnhof an, hole mein Gepäck und steige in den Zug. Kurz darauf rollt er los. In zwölf Stunden bin ich wieder in Dresden und dann geht das Leben wieder weiter, die Realität holt einen doch immer wieder ein. Doch Realität bleibt nur so lange Realität, wie man vor ihr flüchten kann, für einen Moment, für einen Tag, für eine Woche. Jetzt kann er kommen, der Frühling.

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